Bericht MAIN POST September 1990

Sehnsucht nach Apfelstrudel mitten im "Auge des Taifuns"

Das Meer tobt. Die gewaltigen Wellen peitschen auf das Vorderdeck. Die schwarzen Wolken und das Wasser sind ein einziges, nasses Dunkel, in dem das Schiff verloren herumirrt. Die Männer in den Kojen suchen vergeblich Schlaf. Sie werden in ihren Betten hin- und hergestoßen. Der Ozean wütet erbarmungslos. Dies ist kein Sturm mehr, der das Schiff wie ein Spielzeug herumbeutelt. Es ist ein Taifun. Finster hatte er sich am Horizont gebildet und fegt nun mit tosendem Lärm über das Meer. Schauplatz dieses angstein- flößenden Naturschauspiels ist der Kurilen-Archipel zwischen dem Ochotskischem Meer und dem Pazifischen Ozean im japanisch-russischen Grenzgebiet. Eine deutsche Expeditionsgruppe ist dorthin unterwegs, um die Inselgruppe zu erforschen. Mit dabei: Peter Wolf, ein Münnerstädter und beauftragt, das Abenteuer auf Photos festzuhalten. Ein Abenteuer, bestimmt von Unwettern, unwirtlichen Gegenden, undurchdringlichen Dschungeln und Entbehrungen, die an der Kraft der acht Männer zehren.

 

Die Reise beginnt für Peter Wolf und sieben Wissenschaftler der Leipziger Universität auf dem Dresdener Flughafen. Moskau und Jushno-Sachalinsk sind die Zwischenstationen, ehe das Schiff mit Ziel Kurilen in See sticht. Schon hier vermerkt Wolfs Tagebuch den ersten Zwischenfall. Der Container mit Ausrüstungen und Lebensmitteln ist auf dem Moskauer Flughafen hängengeblieben. Es soll nicht der erste Kontakt mit den sowjetischen Verhältnissen sein. Ständige Behördengänge, immer neue Genehmigungen behindern das Weiterkommen der Mannschaft. Immer wieder heißt es warten. Oft hilft da nur eine Dollar-Note, die in den privaten Geldbeuter der Beamten wandert.

Das Schiff, eigens für die Expedition angeheuert, ist in einem erbärmlichen Zustand. Rost überall. "Ein Seelenverkäufer", schreibt Wolf in sein Tagebuch. Und immer wieder Taifune. Der Kapitän muß im windstillen Mittelpunkt, dem "Auge des Taifuns" fahren, weil im Außenbereich der Sturm zu gefährlich ist. Doch der Taifun wandert in entgegengesetzter Richtung. Ein Tag geht tatenlos verloren. Endlich ankert das Schiff vor Iturup. Eine Stadt (sie nennt sich "Hauptstadt der Kurilen" - Kurilsk) nicht von dieser Welt. Alte Holzhäuser wie vor hundert Jahren, die Straßen ein einziges Schlammbad. Die Expedition bricht zu einem Vulkankrater auf. Doch der Weg durch undurchdringlichen Urwald vorbei an meterhohen Bambusstämmen und Riesenfarnen ist zu beschwerlich. "Noch ein Drittel", sagt der russische Führer. Doch nach dem siebten Drittel geben Wolf und seine Kollegen auf. Die Gruppe kehrt um und übernachtet im Basislager. Am nächsten morgen sind Zelte, Schlafsäcke und die Kleidung völlig durchnäßt. Die Luftfeuchtigkeit beträgt 100 Prozent. Die ersten Verletzungen sind zu beklagen. Jemand ist einen Fels hinabgestürzt. Einige Kameras geben ihren Geist auf.

Am ersten Tag bei schönem Wetter entdeckt man heiße Schwefelquellen. Es ist Zeit für ein warmes Bad. Am nächsten Tag geht die Fahrt weiter, auf die Nachbarinsel Urup. Wieder tobt ein Taifun. Das Schiff sucht Schutz auf der anderen Seite der Insel, mitten in einem Seeottergebiet. Roter Kaviar bringt Abwechslung in die eintönige Speisekarte. Peter Wolf feiert seinen Geburtstag in der Wildnis mit reichlich Kaviar und Wodka. Auf Urup lockt die Wissenschaftler ein erloschener Vulkan. Moor, Moskitos und tote Bäume lassen die Männer hinter sich. Sie waten schenkeltief durch einen Bach. Die Biologen und Geologen im Team leisten ganze Arbeit. Gestein wird gesammelt. Pflanzen werden gesammelt. Nur für Wolf wird das Fotografieren beinahe unmöglich. Zu wenig Licht macht ihm seine Aufgabe schwer. Der Rückweg verläuft wieder durch den Bach, doch Regenfälle haben den Wasserstand ansteigen lassen. Hoffentlich bleibt die Ausrüstung trocken. Wirklich gutes Wetter ist selten. Der geplante Bildband über den Kurilenarchipel "geht wohl in die Binsen".

Die Männer plagt Heimweh. Einer träumt von frischem Apfelstrudel und Cappucino. Der Tag der Rückreise naht, doch das Schiff wird festgehalten. Wieder Taifun, wieder langes Warten. Mit einem Versorgungsschiff für Bohrinseln wird Kontakt aufgenommen. Es bringt sie schließlich sicher ans Festland. Die Expedition ist zu Ende. Peter Wolf zitiert zu Hause im bequemen Gartenstuhl ein geflügeltes Wort aus Rußland, das ihm aus dem Herzen spricht: "100 Kilometer sind keine Entfernung, 100 Jahre ist kein Alter und 40prozentiger Wodka ist kein Alkohol..."

 

[Der Text (von uns leicht geändert)d stammt von Gerhard Fischer und wurde in der MAIN POST im September 1990 veröffentlicht]